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Oben im Büro herrschte Stille. Das war immer so, wenn Kjells Kollege Henning dort allein war. Wie ein dicker Teppich absorbierte er jede Unruhe und Hektik. Ein Holzkeil, den Henning beim Warten auf seine Beförderung selbst geschnitzt hatte, steckte unter der Glastür. Sie schirmte die Räume der taktischen Einheit der Reichsmord ab und war sonst immer verschlossen.
Kjells Blick fiel beim Vorbeigehen auf das Schild, das gestern ausgewechselt worden war. Seit Mitternacht galt ein neues Polizeigesetz. Die Änderung wurde dem Drängen der neuen Regierung und der Polizeiführung gerecht, dass die Ermittlungseinheiten auf Reichsebene verstärkt werden müssten, um gegen das organisierte Verbrechen und den Terror der Zukunft gewappnet zu sein. Das hatte für niemand bei der Polizei größere Konsequenzen als für Kjell und seine kleine Gruppe. Sie war seit Mitternacht aus der Organisation der Reichskriminalpolizei ausgegliedert und bildete nun eine eigene Haupteinheit neben Reichskrim und Säpo. Dasselbe war Kjells Kollegen Ragnar Lägerbäck passiert. Seine Gruppe war jetzt die Haupteinheit gegen Wirtschaftsverbrechen.
Weil sie nur zu viert waren, hatte man bei Kjell eine Beförderung zum Intendenten als zu teuer empfunden und ihm als Kommissar nur besondere Vollmachten gegeben, die in einem Ermächtigungsparagraphen festgelegt waren. Die Gruppe unterstand nun nicht mehr dem Reichskriminalchef Sten Haglund, der deswegen immer noch sauer war, sondern direkt dem Reichspolizeichef Tomas Liljemark. Mit dem Ermächtigungsparagraphen konnte Kjell jedoch Personal von der Reichskrim abziehen, was Sten Haglund noch mehr verärgerte.
Henning war endlich Kommissar geworden. Kjell fand ihn an seinem Schreibtisch sitzend, wo er die Aussage des Jungen aufnahm. Er hieß Fayid und hatte auf dem Besucherstuhl platzgenommen. Theresa zog ihre Kreise auf Barbros blauem Drehstuhl und betrachtete ihre fliegenden Füße wie in einem Kettenkarussell, während sie der Befragung lauschte.
Kjell steckte den Kopf ins Zimmer. „Habt ihr etwas Neues von Sofi gehört?“
Henning sah auf und schüttelte den Kopf. „Der Wagen wartet vor ihrer Tür. Irgendwann wird sie schon nach Hause kommen.“
„Theresa, du wartest in meinem Büro. Und zwar auf dem Besucherstuhl und nicht auf meinem.“
Theresa nickte ohne jedes Anzeichen von Beunruhigung und verschwand durch die Tür. Kjell setzte sich auf Barbros Stuhl und hörte schweigend zu.
„Norrmalm hat angerufen“, sagte Henning. „Fayid muss zum Verhör, wenn er hier fertig ist. Die Sache mit den Autospiegeln.“
Fayid nahm dies zum Anlass, Kjell seine Unschuld zu beteuern. Er habe keinen einzigen Wagen beschädigt, sondern sogar versucht, seinen Freund davon abzuhalten. Der sei allerdings ein Freund, den man von nichts abhalten könne. Um sich vor einer Antwort zu drücken, griff Kjell nach dem Polizeiregisterauszug von Fayid.
„So schnell kannst du ohnehin nicht nach Norrmalm“, murmelte Kjell und überflog das zweiseitige Dokument. Dass Fayid Nahvi bereits zwanzig Jahre alt war, verblüffte Kjell. Seine Familie war vor acht Jahren aus Meschhed im Osten Irans nach Schweden gekommen. Seit drei Jahren besaß die ganze Familie die schwedische Staatsbürgerschaft. Die beiden kleinen Schwestern waren in Stockholm geboren worden. Unter der Rubrik Berufsleben las Kjell, dass Fayid Student war.
„Wo studierst du, Fayid?“
„Södertörn. Civilökonomie und Wirtschaftsgeografie.“
„Fayid“, sagte Kjell. Für den Tonfall eines geistlichen Führers beherrschte er sechs Nuancen. „Such dir andere Freunde.“
„Hab ich schon!“
Kjell wollte wissen, was bei Fayids Befragung herausgekommen war.
„Nicht viel“, resümierte Henning mit Blick auf seine Aufzeichnungen und las dann vor.
Mittendrin hob Kjell die Hand. „Habe ich das richtig verstanden? Als du zum erstenmal oben auf der Straße warst, war niemand bei der Leiche?“
Fayid nickte.
„Bist du dir ganz sicher?“
Fayid staunte.
Kjell strich sich ums Kinn. Nach Cristers Aussage war der schwarze Mann bei der Frau gewesen, bevor Fayid aus der U-Bahn-Station kam. Nach der Aussage von Greta und Katherine war der Mann erst weggegangen, als Fayid zum zweiten Mal zusammen mit Theresa wieder heraufkam. Fayid hätte ihn also beim ersten Mal sehen müssen, wenn er schon bemerkt hatte, dass eine Frau verletzt oder tot auf der Straße lag.
Henning begriff, dass etwas nicht stimmte. „Bist du dir sicher? Niemand war bei ihr? Kannst du es ausschließen?“
„Das kann ich. Sonst wäre ich ja in meiner Lage nicht zurückgegangen, um die Polizisten raufzuholen.“
Er war weggerannt, weil er seinen Freund nicht verraten wollte. Und für ihn lügen wollte er erst recht nicht.
„Es gibt noch eine andere Sache, bevor du nach Norrmalm kannst“, begann Kjell widerstrebend. „Zwei Zeugen wollen Anzeige gegen Theresa erstatten, weil sie dir gegenüber eine rassistische Beleidigung geäußert hat, als ihr beiden bei der Frau wart. Was ist da passiert?“
„Ich stand zu dicht bei ihr. Hinter ihr, sie kniete vor mir auf der Straße.“
„Ja, aber was hat sie gesagt?“
„Nur dass ich mich nicht so dicht hinter sie stellen soll.“
„Soweit ich weiß, hat sie ihren Befehl reichlich bebildert. Von einem Bazar soll die Rede gewesen sein und von orientalischem Körperkontakt.“
Fayid blickte Kjell mit vorsätzlicher Dümmlichkeit in die Augen und schwieg.
„Fayid, du kennst die drei persischen Tugenden?“
„Klar. Auf die Schwestern aufpassen, Zimmer aufräumen und am Sonntag zu Hause bleiben.“
„Ganz falsch. Reiten, Bogenschießen und die Wahrheit sagen. Ich beziehe mich hier auf die dritte Tugend.“
„Er hat griechische Literatur studiert“, erläuterte Henning. „Und zitiert gerne Xylophon.“
„Xenophon heißt der“, sagte Fayid.
„Also nein? Sie hat nichts gesagt?“
„Nein.“
„Du kannst es ruhig sagen. Wenn sie dich beleidigt hat, wird sie dafür zur Rechenschaft gezogen.“
„Sie hat nichts gesagt.“
„Gut“, sagte Kjell und stand auf. „Überleg es dir.“
Er verließ das Zimmer und ging hinüber in sein Büro. Theresa hatte die Weisheit besessen, sich nicht auf seinen Sessel zu setzen, sondern am Fenster stehend zu warten. Kjell wies ihr den Stuhl an der Wand zu.
„Gegen dich ist Anzeige erstattet worden. Du hast Fayid Nahvi rassistisch beschimpft.“
Theresa schwieg.
„Leugnen brauchst du erst gar nicht.“
„Er hat mir in den Hintern getreten!“
„Er hat dir in den Hintern getreten, nachdem du ihn beleidigt hast.“
„Er ist mir die ganze Zeit schon auf die Pelle gerückt.“
„Das ist kein Grund, den orientalischen Bazar ins Spiel zu bringen.“
„Aber genau so war es! Der klebte an mir und hat Witze gerissen!“
„Du gestehst also.“
„Ja. Ich hab’s gesagt. Tut mir leid. Aber die Situation war hektisch.“
Kjell verschränkte die Arme vor der Brust. „Warst du bei dem Mädchen im Krankenhaus? Wie hieß die noch mal?“
„Lovisa Sjölin.“
„Genau.“
„Die haben mich gleich wieder weggeschickt und gesagt, ich soll später wiederkommen. Bei Lovisa zu Hause macht auch niemand auf.“
„Gut. Dann probier es bei beiden noch einmal.“
Theresa stand erleichtert auf. Alles war besser, als zur Norrmalmwache zurückzumüssen.